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Interviews

Beyond the Border

Die Theaterregisseurin Cao Kefei im Gespräch mit der Autorin und Kulturjournalistin Sun Min

Sun Min: 1987 bist du in die Schweiz gegangen, 1997 nach Beijing gezogen. Seit wir uns 1998 kennengelernt haben, verfolge ich deine Theaterarbeit und habe fast alle Stücke gesehen, die du in China inszeniert hast. Wie bist du zum Theater gekommen?
Cao Kefei: Als ich in die Schweiz ging, übernahm ich zunächst Übersetzungsarbeiten und studierte zwei Jahre Betriebswirtschaft, aber das Studium langweilte mich. 1991 dann scharte ein Schweizer Regisseur, der als Theaterpädagoge tätig war, ein Dutzend Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund um sich, um von ihren jeweiligen persönlichen Erfahrungen aus die Schweizer Realität zu erkunden. Das war damals ein ganz neuer Ansatz. In dieser (noch heute existierenden) Laienspielgruppe blieb ich etwa eineinhalb Jahre. Im ersten Jahr improvisierten wir auf der Grundlage der thematischen und szenischen Vorgaben des Regisseurs. So entwickelten wir viele interessante Szenen. Wir übten uns darin, szenische Dialoge zu schreiben und zu spielen. Der Regisseur »häutete« uns Schicht um Schicht, bis wir völlig »nackt« waren und alles »Schauspielernde« abgelegt hatten. Am Ende setzte er die einzelnen Szenen wie Puzzlesteine zu einem Bild zusammen. Dieser Prozess weckte in mir wieder die innige Liebe zum Theater, die ich als Kind empfunden hatte; er eröffnete mir ein Medium, mich selbst auszudrücken.
Du hast rund zehn Jahre im Ausland verbracht. Was empfandest du bei deiner Rückkehr nach China anders im Leben und in der Arbeit?
Ich stamme aus Shanghai. Mit meiner Arbeit als freie Theaterschaffende habe ich 1998 in Beijing begonnen. Beijing war für mich damals eine fremde Stadt. Die Menschen hier sind ungezwungen und können endlos drauflosschwatzen; sie lassen sich von ihren Gefühlen leiten und legen keinen so großen Wert auf Ordnung und Sorgfalt wie die Shanghaier. Noch weniger ähneln sie den Schweizern mit ihrem an Pedanterie grenzenden Sinn für Organisation und Planung. Bei der Theaterarbeit äußert sich diese Nachlässigkeit in einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein, fehlender Konzentration, verspätetem Erscheinen zu den Proben, ungeniertem Handygebrauch während der Proben. In solchen Momenten sehne ich mich nach Disziplin und Genauigkeit.
Im Jahr 2001 hast du in China Thomas Bernhards Die Macht der Gewohnheit auf die Bühne gebracht. Aus welchem Grund gerade dieses Stück?
Bernhards Prosa hat mich gleich bei der ersten Lektüre tief bewegt. Er schreibt gern Schachtelsätze: Ein einziger Satz füllt leicht eine ganze Seite, es ist, als wollte seine Sprache über das Papier quellen. Seine Sätze ziehen den Leser in einen unergründlich tiefen Keller hinab, aber dieses Hinabsinken vermittelt ein Gefühl von Kraft. Im Rahmen eines Symposiums zu Bernhards Werken von der Universität Wien und der Universität Beijing wurde ich gefragt, ob ich ein Stück von Bernhard inszenieren wollte. Damals kannte ich schon einige seiner Stücke. Dann las ich Die Macht der Gewohnheit; das Stück schien mir genau richtig, und so beschloss ich, es zu übersetzen.
Was hat dich dazu gebracht, ein solches Stück auf eine chinesische Bühne zu bringen? Was hat es mit der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Realität in China zu tun?
Das deutschsprachige Original handelt von allerlei Konflikten, die zwischen einem Zirkusdirektor und seinen Artisten im Spannungsfeld von Alltagsrealität und dem Streben nach dem Ideal entstehen. Bei meiner Bearbeitung des Stücks betonte ich die darin angelegte Beziehung von Macht und Kollektiv, also von Herrschen und Beherrschtwerden, Zähmen und Bezähmtwerden. Ich ließ Akrobaten an der Aufführung mitwirken und inszenierte fortlaufend bestimmte ritualisierte Abläufe, etwa kollektiven körperlichen Drill, Handstand, Seiltanz und Schlagworte skandieren. Diese Mechanismen riefen im chinesischen Publikum auf Anhieb Erinnerungen an die Kulturrevolution wach. Die ideologische Zähmung beginnt mit der Zähmung des Körpers. Die akrobatischen Einlagen verliehen der Aufführung etwas Surreales und Voyeuristisches.
Zur Uraufführung Ende 2001 schrieb ich im Programmheft: »Unsere Nation ist allzu sehr ans Jonglieren gewöhnt; allzu sehr an Seiltanz gewöhnt; allzu sehr an Tierdressur gewöhnt; allzu sehr an Clownerie gewöhnt. Schon in unserer Jugend haben wir uns an die Heuchelei gewöhnt, die Anpassung, die Kompromisse, den Selbst- und Fremdbetrug.« Ich glaube, diese Worte haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren, und alles, was die Figuren des Stücks in ihrem Wesen ausmacht, geht uns etwas an.
Du hast dieses Stück selbst übersetzt, bearbeitet und inszeniert – kannst du etwas über diesen kreativen Prozess erzählen?
Übersetzen heißt die Bedeutung der Wörter ausloten. Zum Beispiel bietet das Chinesische für das deutsche Wort »Macht« im Originaltitel Die Macht der Gewohnheit mehrere Übersetzungsmöglichkeiten: quanli [staatliche oder amtliche Macht], liliang [Kraft, Stärke], shili [Einfluss, Stärke]. Bei der Entscheidung für ein Wort muss man sich nach dem Kontext und dem Inhalt des Stücks insgesamt richten. In diesem Fall habe ich das negativ konnotierte shili gewählt. Beim Übersetzen transportiere ich so viel wie möglich von den stilistischen und sonstigen Eigenarten des Originals; egal, ob Klang, Interpunktion oder Satzbau, alles muss in der Übersetzung bewahrt bleiben. Zum Beispiel dürfen die rondoartigen Wiederholungen, die Bernhards Werke kennzeichnen, in der Übersetzung nicht verlorengehen. Bei der Behandlung bestimmter Details sollte man sich allerdings nach den chinesischen Ausdruckskonventionen richten, damit sich die Übersetzung nicht holprig liest. Erst bei der Bearbeitung des Textes für die Inszenierung lasse ich die Vorstellungen mit einfließen, die ich mir von den einzelnen Szenen gemacht habe.
Das Stück wurde im Beijinger Kinderkunsttheater (Beijing Ertong Yishu Juyuan) aufgeführt. Ich erinnere mich, dass die Bühne sehr groß und mit schweren eisernen Baugerüsten vollgestellt war. Das Bühnenbild hatte etwas Bedrückendes an sich; es ließ die Schauspieler maschinenhaft und winzig wirken. War das der Effekt, den du erreichen wolltest?
Eigentlich hatte ich mir ein anderes Bühnenbild vorgestellt. Ich hatte ein Baugerüst im Kopf, das abbaubar sein sollte wie die provisorische Bühne eines kleinen Wanderzirkus. An einem bestimmten Wendepunkt der Aufführung hätte man es demontieren können, so dass die Bühne ganz leer zurückgeblieben wäre. Weil aber die Schauspieler für ihre akrobatischen Einlagen und Seiltänze an dem Gerüst auf und ab klettern mussten, brauchten wir aus Sicherheitsgründen leider ein fest im Boden verankertes Eisengerüst. Dass aber die Figuren auf der weiten Bühne wie Marionetten oder Requisiten dieses großen Eisengerüsts wirkten, passt meiner Meinung nach zur Inszenierung.
2003 veranstalteten das Goethe-Institut Beijing und das Lin Zhaohua Studio gemeinsam eine Theaterwoche der deutschsprachigen Länder. Bei dieser Gelegenheit hast du Marius von Mayenburgs Feuergesicht inszeniert. Das Stück erzählt eine wahre Geschichte über die Grausamkeit des Erwachsenwerdens. Die Aufführung am Experimentellen Volkskunsttheater Beijing (Beijing Renyi Shiyan Juchang) erregte damals große Aufmerksamkeit. Kannst du etwas von der Arbeit an diesem Stück erzählen?
Feuergesicht beruht angeblich auf einer wahren Begebenheit. Ein achtzehnjähriger Junge, der in seiner eigenen geistigen Welt lebt, spielt gern mit Feuer. Er liebt seine ältere Schwester. Voller Abscheu vor einer Welt, in der es von abgedroschenen Phrasen nur so wimmelt, meidet er seine Eltern, mit denen er nicht kommunizieren kann. Als seine Schwester einen Freund hat, distanziert sie sich von ihrem Bruder, der immer verschlossener wird. Um sich zu befreien, legt er einen Brand in der Kirche und im eigenen Klassenzimmer und tötet schließlich im Affekt seine Eltern. Ich habe oft das Gefühl: Einmal erwachsen geworden, ermattet die Welt der Fantasie, die uns einst Flügel verlieh. Das Stück erinnert uns an unser eigenes Heranwachsen und führt uns in der Lebensmitte unser gegenwärtiges Ich neu vor Augen. Während der Proben hatte ich voller Erschütterung einen handgeschriebenen Abschiedsbrief in der Pekinger Abendzeitung gelesen. Der Briefschreiber war ein Junge, der immer wieder den Bestrafungen und Misshandlungen seiner alleinerziehenden Mutter ausgesetzt gewesen war. Eines Morgens ertrug er es nicht länger, erstach seine Mutter und brachte sich anschließend um, nachdem er jenen Brief geschrieben hatte. Dass manche Zuschauer der Aufführung übermäßige Brutalität vorwarfen, liegt an unserer Neigung, vor der nackten Realität die Augen zu verschließen.
Die Aufführung hat damals viele sehr bewegt, ihr wohnte eine große Kraft inne. Eine besondere Rolle spielte dabei die Tatsache, dass die Eltern des Jungen nie die Bühne betraten, dass ihr triviales Leben und ihr nichtssagendes autoritäres Gerede nur in schwarz-weißen Multimedia-Installationen Gestalt annahm. Auch das Bühnenbild war außergewöhnlich und voller Symbolkraft: mehrere Kühltruhen, gefüllt mit Gebrauchsgegenständen.
Seit dieser Zeit benutze ich für die Bühne gern Gebrauchsartikel – erstens sind sie billig, was für uns unabhängige Theaterschaffende nicht unwichtig ist, und zweitens möchte ich herausfinden, wie sich Gegenstände, die uns aus dem Alltag vertraut sind, im Theaterraum verwandeln, wie sie ihr eigenes Dasein entfalten.
Du hast in den letzten Jahren immer wieder Stücke in Zusammenarbeit mit europäischen Theatern inszeniert und auch an der Konzeption von Festivals mitgewirkt. Welchen Einfluss hat das europäische Theater auf deine Arbeit?
Ich schätze dessen nie erlahmende Entdeckerfreude. Die Theaterkultur spielt im kulturellen Leben der europäischen Städte eine bedeutende Rolle, sie stellt für ganz unterschiedliche Menschen ein Forum der Begegnung, des gemeinsamen Vergnügens und der Diskussion dar. Die Intendanten wechseln alle vier oder fünf Jahre; sie müssen all ihr Können aufbieten, um die Leute von ihren Fernsehern und aus ihren Häusern in die Theaterräume zu locken.
In der zeitgenössischen Theaterszene ergreifen mich die Poesie, die Wahrhaftigkeit und die grenzübergreifende Im- oder Explosion, die beispielsweise den Werken der Choreografen Pina Bausch und Alain Platel, der Regisseure Luk Perceval und Thomas Ostermeier zu eigen ist. In letzter Zeit hat das Dokumentartheater der Gruppen Rimini Protokoll und She She Pop in mir einige Fragen angestoßen: Was ist Theater? Wozu Theater? Was für ein Verhältnis besteht zwischen Leben und Kunst?
Welche Dramatiker hast du bislang übersetzt? Inwiefern ergänzt sich das Inszenieren mit dem Übersetzen?
Die von mir übersetzten Stücke stammen alle von modernen oder zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatikern – z. B. Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Thomas Bernhard. Meine jüngste Übersetzung ist Dea Lohers Das letzte Feuer. Wenn ich ein Stück selbst übersetzt und bearbeitet habe, kann ich vielleicht seine Essenz besser erfassen, ich weiß dann, was ich bei der theatralen Umsetzung will.
Wie bewältigst du beim Übersetzen den Transfer zwischen zwei so unterschiedlichen Sprachen?
Das ist ein weites Feld. In Das letzte Feuer beispielsweise ist die Sprache kontrolliert, poetisch, fragmentarisch, und die Gesamtstruktur zeichnet sich dadurch aus, dass interpunktionslose Schilderungen aus der Lyrik und szenische Dialoge aus dem Alltag einander in einem freien Wechsel voll innerer Musikalität folgen. Das durch die Sprache vermittelte Gefühl des Fragmentarischen verstärkt sich im Verlauf des Stücks immer mehr. All das muss ich in der chinesischen Übersetzung transportieren. Nur beim Satzbau nehme ich Rücksicht auf chinesische Lesegewohnheiten. Im Deutschen steht oft der Hauptsatz vor dem Nebensatz; in der Übersetzung kehre ich diese Reihenfolge manchmal um, damit es sich flüssiger liest. Wenn das deutsche Original aber zwischen den einzelnen Wörtern oder Sätzen bewusst Lücken oder Brüche schafft – das gilt insbesondere bei lyrischer Sprache –, darf der Übersetzer nicht um der leichteren Lesbarkeit willen den Text glätten. Das würde die poetische Wirkung wesentlich verringern.
2007 hast du deine Zusammenarbeit mit dem Lyriker Duo Duo begonnen und Together inszeniert, ein Stück, das die Institution der Ehe und weibliche Befindlichkeiten thematisiert und in Berlin uraufgeführt wurde.
2006 traf ich Carena Schlewitt, die für das Theater Hebbel am Ufer (HAU) das Festival »Umweg über China« kuratierte. Das war eine Zeit, in der ich ziemlich frustriert war von der Theaterszene in China. Damals filmte ich mit einer Videokamera eine Freundin, die gerade ihren gewalttätigen Freund verlassen hatte und großen Stimmungsschwankungen ausgesetzt war; meinen Film wollte ich ihr zur Erinnerung an diese Zeit des Umbruchs schenken. Von ihren Erzählungen war ich zutiefst erschüttert; bei professionellen Schauspielern habe ich derart authentische Gefühlsausbrüche nur selten erlebt. Das inspirierte mich zu der Idee, Frauen unterschiedlichen Alters über ihre Liebesbeziehungen zu befragen. Die Erzählungen dieser Frauen habe ich mit Ibsens Nora in ein Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart, West und Ost, Fiktion und Realität gebracht, wobei sich die Figur der Nora als roter Faden durch den Aufbau der Aufführung zog. Carena fand das interessant, dann redete ich mit Duo Duo darüber, und nachdem er Ein Puppenheim gelesen hatte, war er sehr bewegt und schrieb eine Fortsetzung, in der er Noras Gemütszustand und Bewusstseinsstrom nach ihrem Fortgang auf poetische Weise thematisierte. Diese Fortsetzung verfasste er aus einem weiblichen Blickwinkel heraus und brachte darin die tiefe Sehnsucht und das starke Zaudern einer Frau zum Ausdruck, die an einem existenziellen Scheideweg steht. An der Performance waren fünf Chinesinnen und zwei professionelle Schauspielerinnen – eine chinesische und eine deutsche – beteiligt. Die fünf Frauen erzählten ihre persönlichen Geschichten, während die beiden Schauspielerinnen – die eine auf Chinesisch, die andere auf Deutsch – den lyrischen Text von Duo Duo darboten und auf diese Weise ein mit dem anderen Teil verschränktes Spiegelbild schufen.
Together markierte den Beginn deiner Zusammenarbeit mit Duo Duo. Später habt ihr gemeinsam das Stück In die Mitte des Himmels erarbeitet, das 2009 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt wurde.
Christoph Lepschy, der damals Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus war, und ich verbrachten fast drei Jahre damit, für das Schauspielhaus ein Festival »Neue Dramatik: China und Deutschland« zu konzipieren. Dabei wurde ich eingeladen, für die Einweihung des »Central« – einer neuen Spielstätte des Schauspielhauses – das Stück eines chinesischen Dramatikers zu inszenieren. Dafür suchte ich einen Text, der das heutige China spiegelte, ohne allzu chinesisch zu sein. Beijing Toilet zum Beispiel, ein Stück des Beijinger Dramatikers Guo Shixing, hatte seine Stärke im Zeit- und Lokalkolorit und war eben deshalb wenig geeignet. Später dachte ich an Endstation Beijing, ein vergleichsweise internationales Stück meines jüngeren Bruders. Nachdem Duo Duo dieses Stück gelesen hatte, kam ihm unversehens eine Idee für ein neues Ende. Sein Konzept öffnete die ursprünglich relativ geschlossene Struktur von Endstation Beijing und ich ermunterte ihn, seinen Gedanken weiterzuverfolgen. Daraus entstand ein neues Stück – In die Mitte des Himmels –, das voller Absurdität, Humor und Fantasie war.
Duo Duos Text ist voller Poesie und Spannung. Kannst du ein wenig über den Inhalt und die Aufführung erzählen?
In die Mitte des Himmels handelt von einem Geschäftsmann, einem Müßiggänger, einer Angestellten, einer schreibenden Schönheit und einem von zu Hause ausgerissenen Mädchen, die alle in einem Flugzeug sitzen, das von Beijing nach New York fliegen soll. Zunächst kann das Flugzeug aus unerfindlichen Gründen nicht abheben, und als es das doch endlich tut, kann es unerklärlicherweise seinen Bestimmungsort nicht erreichen. Eine reale Reise entwickelt sich nach und nach zu einem surrealen Trip, der die Habgier und Heuchelei des Einzelnen und die Absurdität und Verlorenheit des Kollektivs entblößt. Wir haben den gesamten Theaterraum in einen riesigen Container »Made in China« umgestaltet. Schauspieler und Zuschauer saßen allesamt in der Mitte des Theaters wie in einer Kabine. Auf diese Weise wurden auch die Zuschauer zu Passagieren, während die Schauspieler zwischen realen und seelischen Räumen und Zeiten hin- und herpendelten und sich das ganze Theater in eine Inszenierungsstätte verwandelte. Ein Videokünstler bewegte sich frei im ganzen Raum und fing an Ort und Stelle die verborgenen Momente ein, die live auf eine große Fläche projiziert wurden.
Was ist anders an Theaterproben in Deutschland?
Wir hatten rund sechs Wochen Zeit für die Proben. Das bedeutete eine große Hektik, vor allem weil es sich um ein so interkulturelles Projekt und Team handelte. Schon rein sprachlich brauchten wir einige Zeit, um uns zu verständigen, da vieles über einen Dolmetscher lief – vom gegenseitigen Verstehensprozess zweier unterschiedlicher Kulturen ganz zu schweigen. Im Verlauf der Proben las und diskutierte ich mit den Schauspielern, wärmte mich mit ihnen auf und sah mit ihnen Filme an, die mit dem Stück in Zusammenhang standen. Die Proben waren nicht einfach, es war meine erste Zusammenarbeit mit deutschen Schauspielern, wir waren einander ziemlich fremd. Duo Duos Stück war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig und wurde im Laufe der Proben immer wieder umgeschrieben. Darin überlagern sich Fiktion und Realität, und die Sprache ist reich an Symbolik. Die Schauspieler gingen mit einer unterschiedlichen Einstellung an neue, unfertige Dinge heran: Einige waren kooperativ, andere eher eigensinnig. Die Kommunikation gestaltete sich manchmal reibungslos und manchmal schwierig, aber das ist bei jeder Theaterarbeit so – als Regisseur muss man damit umgehen können. Ich stieß dabei richtig an meine Grenzen. Aber die enge Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Christoph Lepschy, ohne die das alles nicht zustandegekommen wäre, war sehr konstruktiv und bereichernd.
Was die Proben im Allgemeinen angeht, gibt es zwei wesentliche Unterschiede zu China: Erstens arbeitet der Regisseur eng mit dem Dramaturgen zusammen, der an einem deutschen Theater eine sehr wichtige Stellung einnimmt; zweitens muss an deutschen Theatern schon vor Beginn der Proben ein Entwurf für ein Bühnenbild vor Ort festgelegt werden.
Der rundere Mond ist ein weiteres dokumentarisches Stück, das du in der Schweiz inszeniert hast. Es handelt vom Alltag und den Liebesbeziehungen von Chinesinnen, die ihren Schweizer Ehemännern – gespielt von einem einzigen professionellen deutschsprachigen Schauspieler – in die Schweiz gefolgt sind. Wie hast du das Konzept zu diesem Stück entwickelt?
Der rundere Mond wurde von der Schweizer Stiftung Pro Helvetia in Auftrag gegeben. Der zugrunde liegende Gedanke war: Wie leben mit Schweizer Männern verheiratete Frauen aus der Volksrepublik China in einem fremden Land, das sich in jeder Hinsicht so sehr von ihrem Herkunftsland unterscheidet? Wie bauen sie sich eine neue Existenz auf? Welche Konflikte und Herausforderungen erfahren sie am eigenen Leib? Welche Erkenntnisse gewinnen sie? Nach Together setzte ich mich hier erneut mit dieser Frauenthematik auseinander. Dafür habe ich viele chinesische Frauen getroffen und mir ihre Geschichten angehört. Fünf von ihnen traten dann in der Performance auf. Eine war eine professionelle Darstellerin der Peking-Oper; erst dank ihrer Mitwirkung nahm das Konzept von der Mondgöttin Chang’e wirklich Gestalt an. Die mythische Figur Chang’e – eine Rolle, die auch Mei Lanfang, der berühmte Meister der Peking-Oper, gespielt hat – scheint mir eine passende Metapher für die Lebenssituation dieser Frauen.
Die Performance verwendet fünf Sprachen: Chinesisch, Deutsch, Englisch, Schweizerdeutsch und Shanghainesisch. Die Verschränkung dieser Sprachen und Dialekte vermittelt eine Ahnung von den Schwierigkeiten einer Ehe in der Fremde. Warum bezieht sich die Performance nur auf die Ebene der Tatsachen, ohne die tieferen Ursachen zu ergründen?
Eine Ehe zwischen den Kulturen erlebt jeder anders. Ich habe auch glückliche Ehen dieser Art kennengelernt. Generell sind solche Ehen allerdings nicht einfach – aber welche Ehe ist das schon? –, wofür es viele Gründe gibt. Ich wollte nicht einzelne Gründe herausgreifen und als repräsentativ hinstellen; das wäre allzu vereinfachend gewesen. Stattdessen wollte ich den Zuschauern Raum lassen für ihre eigenen Vorstellungen und Gedanken.
Die Peking-Oper-Darstellerin bringt nicht nur Gesang zu Gehör, sondern führt auch einen für diese Oper charakteristischen traditionellen Tanz auf. Auch das minimalistische Bühnenbild, das sich auf einen langen Tisch und ein paar Stühle beschränkt, erinnert an die Peking-Oper. Hattest du dir eine Synthese der unterschiedlichen Theaterstile zum Ziel gesetzt?
Ausgehend von den Themen, den Mitwirkenden und dem Spielraum ergab sich eine Suche nach der passenden theatralen Form, gleichgültig ob man das nun als traditionell oder zeitgenössisch, chinesisch oder abendländisch bezeichnen will. Dabei hielt ich mich an keine Grenzen.
Du sagtest vorhin, Chang’e sei eine Metapher – eine Metapher wofür?
Für die Einsamkeit und die Sehnsucht dieser Frauen. Für ihre innere Zerrissenheit. Egal ob Hausfrau, Zitherspielerin, Chinesischlehrerin oder Besitzerin eines Antiquitätenladens, egal ob über fünfzigjährig oder Anfang zwanzig, sie alle treibt ein unauslöschliches Heimweh um. Wie viel an Schicksalslast hält da die Liebe aus?

Das Gespräch wurde im August 2013 in Beijing geführt, publiziert im Buch „Zeitgenössisches Theater in China“.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann