Wir fahren unentwegt
kommen nirgends an
Was sagte sie, die alte Frau?
Geh langsam – »man zou!«
(Textauszug aus Volksrepublik Volkswagen)
Xinjiang, Volkswagen, Karaoke, das Rote Frauenbataillon, Kopie, kleine Schwalbe, die Kunst des Krieges, die Hauptversammlung der Aktionäre, der Nationalkongress … Was haben diese zusammengewürfelten Worte miteinander zu tun? Wir sehen eine große Bühne, die einer Werkstatt nachgebaut ist. Vier deutsche Volkswagen-Expats und die deutsche Ehefrau eines Expats, dargestellt von Schauspielern, erzählen ihren Landsleuten in E-mails von ihren Alltagserfahrungen und -erlebnissen in China. Unter ihnen eine chinesische Arbeiterin, von einer Tänzerin verkörpert, die sich wortlos über die gesamte Bühne bewegt, tanzt und am Schluss still ins Publikum blickt. Ein Musiker, der live Ambient-Sounds produziert, ist als Portier in einer kleinen Kabine zu sehen und tritt später überraschend als Sänger auf. Noch überraschender ist der chorische Auftritt von elf deutschen Schulkindern: Sie sagen die VW-Geschichte auf, lernen Chinesisch, machen akrobatische Übungen und kopieren revolutionäre Tanzbewegungen nach chinesischen Fernsehbildern. Dazu bewegen sich imposant simulierte Maschinen auf und ab. Auf einer LED-Anzeige – ein wichtiger Bestandteil der Werkstatt – laufen deutsche und chinesische Texte. Auf zwei Flächen werden Videosequenzen projiziert, die (überwiegend) von Regisseur Stefan Kaegi auf seiner Recherchereise durch China aufgenommen wurden. Das Text- und Videomaterial basiert auf zahlreichen Begegnungen und Gesprächen in China und Deutschland, die das Dokumentartheaterstück Volksrepublik Volkswagen unter Einsatz komplexer theatraler Mittel im Oktober 2014 am Schauspielhaus Hannover zu einer Polyphonie verwoben hat.
Als mir der Regisseur Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) in der Vorbereitungsphase von dem Projekt erzählte, hat es sofort meine Neugierde geweckt. VW und das Thema Auto sind mit meinem Leben auf gewisse Art verbunden. Als ich in Shanghai mein Deutschstudium abschloss, lief das VW-Joint Venture dort gerade auf Hochtouren. Wir Absolventen waren als künftige Dolmetscher gefragt wie heiße Semmeln. In den folgenden Jahrzehnten habe ich miterlebt, wie die (deutsche) Autoindustrie in ganz China rasant expandierte, wie wir in Beijing stundenlang im Stau von sich stetig vermehrenden Autos steckten, wie ein Freund wegen der vielen Käufer auf der Warteliste monatelang sehnlichst auf einen VW SUV wartete, wie unser Himmel immer öfter von Smog heimgesucht wurde und man ohne Atemschutzmasken nicht mehr vor die Tür gehen konnte. VW ist ein phantastisches Brennglas zur Reflexion der Facetten einer komplexen Realität. Ich sagte Kaegi auf seine Anfrage natürlich zu und stieg als Co-Dramaturgin ins Projekt ein.
Meine erste Aufgabe bestand darin, dem Regisseur für seine zweite Recherchereise nach China aus meinem Bekanntenkreis hochrangige Repräsentanten aus Justiz und Wirtschaft als Gesprächspartner zu vermitteln. Zwei meiner Bekannten haben nach langem Hin und Her das Treffen abgesagt, die Themen waren ihnen schlicht zu unberechenbar – noch dazu mit einem ihnen unbekannten Ausländer. Einfach zu viel Risiko! Ich war enttäuscht, konnte ihre Haltung aber nachvollziehen. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie vorsichtig wir dabei sind, fremden Menschen offen zu begegnen. Im geschützten privaten Kreis reden wir offenherzig. Sobald wir aber den vertrauten Zirkel verlassen, zeigen wir ein anderes Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich mich an der Stelle meiner Bekannten anders verhalten hätte.
Kaegi kam von der Reise dennoch mit sehr viel Material zurück. Ich begann, mich damit zu beschäftigen, das war kurz vor Probenbeginn. Auf der großen Probebühne in Hannover traf ich ein buntes Team aus unterschiedlichen Nationen, von Asien über Europa bis nach Südamerika. Wenn ich die Kinder mitrechne, waren es fast dreißig Leute. Ein solches Szenario möchte ich gerne einmal in China erleben! Auf einem langen Tisch lagen die mit dem Projekt zusammenhängenden Bücher und Dokumente herum, damit jeder Mitwirkende hineinlesen konnte. Die Proben liefen auf unterschiedlichen Ebenen ab. VW-Mitarbeiter kamen zu uns, denen wir viele Fragen stellten, der Regisseur führte ein Skype-Gespräch mit einem Menschenrechtsaktivisten, an dem wir teilnahmen, wir besuchten die VW-Werkstatt, schauten die Videofilme aus China an. Die japanische Choreografin Miki Shoji trainierte hart mit den Schauspielern und arbeitete mit der Tänzerin an der Choreografie, der Musiker probierte mit neu komponierten Sounds, ich brachte den Kindern mit Freude die chinesischen Kinderlieder bei. Im Verlauf der Proben hat Stefan Kaegi in Zusammenarbeit mit den Dramaturgen den Text immer wieder gestrafft und ergänzt, umgestellt. Bis kurz vor der Premiere weiter daran gefeilt. Entsprechend wurde das mit dem Text eng verbundene Videomaterial von der Videokünstlerin angepasst. Wenn nicht die Premiere näher gerückt wäre, hätte es ein nicht endender Prozess werden können.
Der wesentliche Teil der Proben bestand in der Arbeit mit den Schauspielern. Anders als bei den Projekten von Rimini Protokoll wurden die Expats diesmal von Schauspielern gespielt. Eine Probebühne wurde aufgebaut, die eine Anmutung des endgültigen Bühnenbildes gab, alle technischen Einrichtungen standen vor Ort bereit. Die Schauspieler trainierten und übten tänzerische Bewegungen ein, auch Tai Ji und Gong Fu. Sie probierten, chinesisches Karaoke nachzusingen, was allen großen Spaß machte. Sie lernten mit mir, chinesische Namen auszusprechen, was von nicht zu unterschätzender Schwierigkeit war, von beiden Seiten war viel Geduld erforderlich. Ich wunderte mich immer, wie schnell die deutschen Schauspieler den Text und die Figur einstudierten. Abends spielten sie im Repertoire dann wieder eine andere Figur, mussten also ständig zwischen den Identitäten hin- und herschalten. Die Schauspieler betrieben einen großen Aufwand, um sich der neuen Identität anzunähern, probierten unterschiedliche Spielweisen aus, um eine Szene nach der anderen entstehen zu lassen.
Zwei Wochen vor der Premiere zogen wir auf die große Bühne des Theaters um. Es war aufregend zu beobachten, wie der dokumentarische Charakter des ursprünglichen Materials auf der großen Bühne seine künstlerische Wirkung entfaltete und damit einen Raum eröffnete, der weit über die persönlichen Erzählungen hinausreichte. Gleichzeitig merkte ich aber, wie die Intimität, die auf der Probebühne geherrscht hatte, hier ein wenig verlorenging. Besonders wenn die Schauspieler frontal zum Publikum erzählten und zu großen, forcierten Gesten tendierten, eine Spielweise, die an großes »Mimentheater» erinnerte. Dann kam mir unwillkürlich der Gedanke zur (unnötigen) Frage: Was hat er oder sie gestern Abend gespielt? Ich fühlte mich immer dann angesprochen, wenn ein(e) Schauspieler(in) nah am Publikum, nah am Leben, undramatisch erzählte.
In der letzten Probenphase nahm ich mich selbst als skypende Ingenieurin auf Video auf. Diese Videoclips bildeten einen Bestandteil der Aufführung und bereicherten sie um die Perspektive einer im deutschen VW-Werk tätigen Chinesin. Was ich zunächst eher trivial fand, hat das deutsche Publikum sehr aufgeheitert. Die Verschiebung der Wahrnehmung führte zum Komischen, weil dadurch das Selbstverständliche in Frage gestellt wird, z. B. wenn die chinesische Ingenieurin im Video sagt: »in Hannover sieht man fast nur kleine Häuser, alles ist ruhig, fast nie Stau und sehr gute Luft. Eine Kleinstadt eben. Nur eine halbe Milllion Einwohner!« Das fand das deutsche Publikum sehr lustig. Die Aufführung würde ich gerne in China erleben und sehen, wie das Publikum dort auf die Expats reagiert. Das Spannende an dem Probenprozess war die Vielschichtigkeit und die Offenheit, mit der sich die verschiedensten Menschen mitsamt den Bühnenmaschinen und die unterschiedlichen Stimmen mit dem Publikumslachen zu einer einzigartigen Polyphonie zusammenfügten.
Im Dezember 2014 las ich folgenden Bericht in einer deutschen Zeitung: »Fast 40 Prozent aller Autos der Konzernmarken VW, Audi, Škoda, Seat, Porsche, Bugatti, Bentley und Lamborghini werden mittlerweile in China abgesetzt … Volkwagen verdient in diesem Jahr rund 60 Prozent des Konzern-Nettoergebnisses in China.« Wenn sich Volkswagen mit der Volksrepublik zusammenschließt, wenn die Wirtschaftsmacht Hand in Hand mit der politischen Macht geht, wenn das Kapital der neu erfundene Gott ist, was bedeutet das alles fürs »Volk«? Wer ist das Volk? Wie kann sich das Individuum angesichts dieser Realität verhalten? Was für eine Welt werden wir den Nachkommen hinterlassen? Viele drängende Fragen hat die Aufführung Volksrepublik Volkswagen aufgeworfen.
Auch in meiner Wahrnehmung hat sich etwas verschoben. Als ich Anfang 2015 in Beijing war, stand ich auf der Straße und sah die Autos an mir vorbeisausen. Diesmal schien es noch mehr große und teure Jeeps und SUVs zu geben als ein halbes Jahr zuvor. Ein Bild war mir immer gegenwärtig: Kinder mit Atemschutzmasken, die in einer riesigen leeren Fabrik wie elektronisch gesteuerte Roboter arbeiten – schnell, immer schneller … Die Welt mit breiteren Straßen und höheren Wolkenkratzern ringsum schien mir viel irrealer als das Bild. Das Bild ist die Schlussszene der Aufführung. Es hat mich nicht mehr losgelassen.
(Der Text ist im Magazin „Theater der Zeit“ und im Buch „Zeitgenössisches Theater in China“ bei Alexander Verlag erschienen.)
Fotos: Katrin Ribbe